J.-P. Gerzaguet: L’abbaye de Marchiennes milieu VIIe – début XIIIe siècle

Cover
Titel
L’abbaye de Marchiennes milieu VIIe – début XIIIe siècle. Du monastère familial à l'abbaye bénédictine d’hommes: histoire et chartes


Autor(en)
Gerzaguet, John-Pierre
Reihe
Atelier de recherche sur les textes médiévaux
Erschienen
Turnhout 2022: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
485 S.
Preis
€ 95,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Gensicke, Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Das Kloster Marchiennes gehört zu den ältesten der entlang der Scarpe gelegenen monastischen Institutionen. Mit den Abteien Hamage (später Priorat vom Marchiennes), Elnone (Saint-Amand) und Hasnon bestanden bereits im siebten Jahrhundert noch drei andere benediktinisch geprägte Einrichtungen im Abstand weniger Kilometer, die mit der Gründung der Abtei Anchin 1079 um eine weitere ergänzt wurden. Jean-Pierre Gerzaguet hat nun die erste moderne monographische Darstellung der Geschichte der Abtei Marchiennes von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhundert und zugleich eine Edition ihrer Urkunden bis 1202 vorgelegt. Diese Arbeit fügt sich nahtlos in die Reihe der den Abteien von Anchin und Denain gewidmeten Studien desselben Autors1 ein und stellt einen verdienstvollen Beitrag zur Erweiterung der Quellenbasis für die Erforschung der flandrischen Klosterlandschaft dar, die eine anhaltende Aufmerksamkeit erfährt.2

Der historische Teil beginnt mit einer umfassenden Analyse der 907 verfassten und der Mitbegründerin von Marchiennes Rictrude gewidmeten Vita Rictrudis, welche die clerici und sanctimoniales der Abtei bei Hucbald, einem Mönch aus Saint-Amand, in Auftrag gegeben haben. Die Anpassungen des hagiographischen Stoffes an die zeitgenössischen, „karolingischen“ Vorstellungen und das Fehlen kontrastierender Überlieferung erschweren die Rekonstruktion der Gründung in den 630er-Jahren – bei dem in der Histoire-polyptique des Klosters erwähnten „Testament“ der Rictrude (Nr. 1 der vorliegenden Edition) handelt es sich um einen Text aus den 1120er-Jahren. Laut Hucbald bestand bereits ein vom heiligen Amand gegründetes und durch dessen Schüler Jonat geführtes Männerkloster in Marchiennes, dem mit dem Eintritt der verwitweten Rictrude eine Frauengemeinschaft hinzugefügt wurde.

Das Jahr 1024 markiert eine Zäsur in der Geschichte der Abtei. Unter Abt Léduin (1023–1047), zugleich Abt von Saint-Vaast und Schüler Richards von Saint-Vanne, wurden die Nonnen durch Mönche ersetzt – ein Vorgang, der in den Gesta episcoporum Cameracensium mit der vorgeblich unsittlichen Lebensweise der Nonnen begründet wird. Im zweiten Kapitel seines Werkes ordnet Gerzaguet diesen Eingriff in den Kontext der flandrischen Klosterreformen ein, die ihm zufolge stärker auf eine bischöfliche als auf eine gräfliche Initiative zurückzuführen seien. In Übereinstimmung mit der jüngeren Forschung bewertet er Reformen als eine Möglichkeit, Kontrolle über eine Institution auszuüben, und analysiert dazu zeitnah entstandene hagiographische Texte wie die kunstvoll gedichtete Vita Rictrudis des Mönchs Jean von Saint-Amand sowie zwei Varianten einer die Tochter Rictrudes verehrenden Vita Eusebiae im Hinblick auf ihre möglichen politischen Entstehungshintergründe. Unabhängig davon dienten die Viten dazu, den Kult um ihre Protagonistinnen zu stärken, auch wenn im gleichen Zuge – und im Einklang mit der Umwandlung in ein reines Männerkloster – die Rollen männlicher Figuren in den Vordergrund gerückt wurden (S. 95).

Eine weitere Zäsur ergibt sich während des Abbatiats Fulcards (1103–1115), der – zumindest laut den Darstellungen späterer Genrerationen – die Abtei an den Rand ihrer Existenz brachte, da er deren Besitzungen an seine eigenen Verwandten ausgegeben hätte. Gerzaguet stellt zurecht die Bedeutung der Abtei für die besagte Familie, die Seigneurs de Landas, als wichtiges Mittel zur Festigung ihrer eigenen Herrschaft im Grenzgebiet zwischen Flandern und Hainaut heraus (in Annexe 2 finden sich zudem ein Stammbaum und genealogische Notizen zu den einzelnen Familienmitgliedern). Indes wäre eine über die Hinweise auf ihre Entstehungszeit hinausgehende, kritischere Einordnung der Berichte über Fulcard im Patrocinium des Galbert von 1125–1127 und den um 1165 verfassten Miracula Rictrudis (vgl. S. 105) nicht nur wünschenswert oder hier sogar notwendig, sondern auch überaus spannend gewesen: Sowohl die Restitutionsbemühungen von Fulcards Nachfolger Amand (1116–1141), zuvor Prior von Anchin, als auch ein Konflikt mit den Seigneures de Landas in den 1160er-Jahren gingen nämlich mit einer Reihe von Urkundenfälschungen und -verfälschungen einher, die zwar in den jeweiligen Vorbemerkungen der Editionen diskutiert werden, aber durchaus auch einen Platz in der historischen Darstellung der Abtei verdient hätten.3

Das dritte Kapitel („Le temps de l’épanouissement“) ist weniger eine Abhandlung über die Geschichte von Marchiennes seit der Mitte des 12. Jahrhundert, sondern bietet eher ein Panorama unterschiedlicher Aspekte, über die sich erst auf Grundlage der Quellen aus hochmittelalterlicher Zeit gesicherte Aussagen treffen lassen. Dazu gehören Überlegungen über die Anzahl und Herkunft der Mönche und ein Überblick über die Besitzungen (siehe dazu auch die in Annexe 3 aufgelisteten Quellenstellen zu 13 Orten mit Pfarreien, villae und curtes des Klosters). Ein Abschnitt zu den möglichen Neu- und Umbauten der Abteikirche und schließlich eine Auswertung der in Annexe 4 edierten Notizen über die Altarweihen des 11. bis 13. Jahrhundert erlauben einen Einblick in liturgische Abläufe. Die Übersichten über die Heiligenfeste (S. 148) und Reliquien (S. 150–151) der Abtei runden diesen Abschnitt ab. Die vier Gebetsverbrüderungen mit Saint-Vaast, Cluny, Saint-Crépin-en-Chaye und Saint-Riquer (in der Edition Nr. 98, 107, 118 u. 119) zeugen von den Beziehungen zu anderen Institutionen (S. 152–154). Auch die Auswertung eines Bücherverzeichnisses der Abtei aus dem 11. Jahrhundert (S. 99–103) und die mit zahlreichen Quellenbelegen angereicherten, biographischen Notizen zu den Äbten und Äbtissinnen von Marchiennes bis 1202 (Annexe 1) dürfen nicht unerwähnt bleiben.

Der zweite Teil – die Urkundenedition – eröffnet mit einem Überblick über das aus 124 Nummern bestehende Corpus. Die Urkunden werden in etablierter Weise nach chronologischen und typologischen Gesichtspunkten klassifiziert und besprochen. Um einen Zugriff aus Ausstellerperspektive zu erleichtern, wäre die Angabe der jeweiligen Urkundennummern in der Übersicht zu den Ausstellern förderlich gewesen. Bemerkenswert ist der mit 72 Prozent sehr hohe Anteil an Originalen, von denen 13 hier erstmals ediert worden sind, sowie die Existenz von drei Fälschungen des 17./18. Jahrhundert (Nr. 3, 10, 19, vgl. S. 170–173), von denen zwei möglicherweise auf Jean-Baptiste Carpentier (1606–1670) zurückgehen. Von den 19 zumeist im Namen des Bischofs von Arras für Marchiennes ausgestellten Empfängerausfertigungen stammen drei aus der Feder des Mönchs, der sowohl das Chartular der 1170er-Jahre als auch die Fälschung auf Calixt II. (Nr. 22) geschrieben hat (S. 174–175). Die Edition selbst ist gründlich erarbeitet und wird von einem Register erschlossen. Mit Blick auf eine digital arbeitende Diplomatik ist die Angabe von Referenznummern verschiedener Urkundendatenbanken sehr zu begrüßen, die dank ihrer typographischen Absetzung von den übrigen Druckwerken zudem einen schnellen Abgleich ermöglicht. Bis auf einzelne Deperdita und drei der Gebetsverbrüderungen sind die meisten Urkunden für Marchiennes bereits digital nachgewiesen und beispielsweise in den Diplomata Belgica auch zahlreiche Digitalisate von Originalen hinterlegt. Um dem derzeitigen Wundertütencharakter der Datenbankeinträge entgegenzuwirken und eine digitale Nutzung der vorliegenden Edition zu erleichtern, wäre die nächste Etappe eine Aktualisierung der betreffenden Datenbanken – ein Wunsch, der im Wissen darum geäußert wird, dass dies leichter gesagt als getan ist und eine solche Entscheidung nicht unbedingt in der Hand von Editorinnen und Editoren liegt.

Jean-Pierre Gerzaguet hat mit diesem Band ein umfassendes Grundlagenwerk vorgelegt, das dazu einlädt, die darin eröffneten Perspektiven weiter zu vertiefen. Zukünftige Arbeiten zu Marchiennes, zum personellen und sozialen Umfeld sowie den überregionalen Verflechtungen dieses Klosters sind damit auf eine neue solide Basis gestellt und es bleibt zu hoffen, dass auch die Reihe vergleichbarer Studien ihre Fortsetzung findet.

Anmerkungen:
1 Jean-Pierre Gerzaguet, L’abbaye d’Anchin de sa fondation (1079) au XIVe siècle. Essor, vie et rayonnement d’une grande communauté bénédictine, Villeneuve d’Ascq 1997; ders. (Hrsg.), Les chartes de l’abbaye d’Anchin: 1079–1201, Turnhout 2005; ders., L’abbaye féminine de Denain, des origines à la fin du XIIIe siècle. Histoire et chartres, Turnhout 2008.
2 Siehe beispielsweise zum benediktinischen Mönchtum Steven Vanderputten, Reform, Conflict, and the Shaping of Corporate Identities. Collected Studies on Benedictine Monasticism in medieval Flanders, c. 1050 – c. 1150, Berlin 2013 und zu Kanonikergemeinschaften Brigitte Meijns, Changing Perspectives on the History of Secular Canons in the Early and High Middle Ages. State of the Art and Areas of Further Research, in: dies. / Marc Carnier (Hrsg.), De canonicis qui seculares dicuntur. Treize siècles de chapitres séculiers dans les anciens Pays-Bas, Turnhout 2018, S. 15–36.
3 So fallen beispielsweise die Abfassung der Histoire-polyptique mit dem Testament der Rictrude, die Fälschungen Nr. 8 und 9 sowie die Interpolation von Nr. 4 in die Amtszeit Amands, während in der Zeit des Konflikts mit den Landas (vgl. Nr. 52, 83, 85, 87) das Privileg Calixts II. (Nr. 22) gefälscht wurde.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension